Zwei Menschen, die sich lieben – nennen wir sie Mila und Robin. Kennengelernt auf Tinder. Seit Beginn der Corona-Pandemie 24/7 dicht aufeinander in den gemeinsamen vier Wänden. “Nine to five” starren sie auf ihr MacBook, abends auf den Fernseher, parallel aufs Handy. Viele Paare hat der Lockdown noch enger zusammengeschweißt, aber irgendetwas stört am eigentlich harmonischen Bild der Verliebten. Vielleicht der exzessive (Über-)Gebrauch von allem, was online stattfindet. Getreu dem Motto “Körper nah beisammen, Gedanken weit entfernt” verbringen immer mehr Paare ihre physische Zweisamkeit in digitaler Einsamkeit. Aber bis wann ist Digitalisierung noch ein Segen? Wie leben und erleben wir Intimität, wenn wir uns ständig in digitale Welten flüchten? Und – wann wird Monogamie zur digitalen Polygamie?
„Beziehungsweise“ untersucht – klar, liegt nahe – die Art und Weise, wie wir Beziehungen leben. Zum Partner, sich selbst, oder auch einfach dem Dude von Tinder, der sich schon wieder als Ultrafail entpuppt hat. Kolumnistin Anni hat in ihrem Leben nicht nur zu viel „Sex & the City“ geschaut, sondern auch stets selbst offene Augen und Ohren für alle Themen rund um Liebe, Sex und Dating. Einige davon lassen sich nur mit ordentlich Humor und Selbstironie verkraften – und es wäre doch viel zu schade, sie euch vorzuenthalten. Viel Spaß beim Lesen… und Relaten.
Sobald das Wort „Dating“ fällt, höre ich meine Mutter mit einer Mischung aus Abfälligkeit und Selbstgefälligkeit aus 646 Kilometer Entfernung sagen, dass „früher alles besser“ war. Ein Klassiker. Sie mag in vielerlei Hinsicht nicht falsch liegen: Die Erde war noch halbwegs grün, Kinder konnten freitags unbesorgt zur Schule gehen, Klopapier durfte weich und unrecycled sein, Sitcoms waren tatsächlich unterhaltsam und Harvey Weinstein hatte (vermutlich) noch keine Frauen missbraucht. Allerdings befand sich auch noch der Paragraf 175 im Strafgesetzbuch, Männer durften sowohl Arbeitsvertrag als auch Konto ihrer Ehefrau ohne Zustimmung kündigen und nicht binäre Geschlechtsidentitäten waren offiziell nicht anerkannt. Dass früher alles besser war, stimmt also nicht, auch wenn wir dazu neigen, Vergangenes zu idealisieren. Besser oder schlechter werden Dinge generell nie, einfach nur anders. Neues bedeutet immer Veränderung. So auch in puncto Dating.
Ein weiterer Vorteil ist, dass Kommunikation über digitale Kanäle in den meisten Fällen zu einer Enthemmung führt und offene, flirty Gespräche schneller zustande kommen können. Hier lassen sich tatsächlich sogar Parallelen ziehen zu der Briefkultur im 18. Jahrhundert. Eher introvertierten Menschen hilft das, aus sich herauszukommen und den ersten Eindruck, den der andere von ihnen bekommt, nach eigenen Vorstellungen zu mitzugestalten. Trotzdem: Dass eine größere Auswahl die Wahl aber nicht immer einfacher macht, weiß man spätestens, wenn man Carrie Bradshaw ratlos in ihrem überfüllten walk-in-closet gesehen hat. Oder Wyclef Jean in seiner Garage vor seiner 37-fachen Autosammlung.
In Sachen Partnerwahl bedeutet das auch, dass die Erwartungen und Ansprüche steigen, die ein Prinz an seine potenzielle Tinderella hat. Hinter dem nächsten Swipe könnte ja schließlich Besseres warten. Robin und Mila aber waren einander das Beste. Sie haben sich gefunden – und behalten. Und das initiativ nur, weil sie beide den instinktiven Entschluss getroffen haben, das Profilbild des anderen nach rechts zu wischen. Und danach nicht weiter. Ihre rehförmigen Augen fielen ihm sofort auf. Sie stand auf seinen muskulös-definierten Oberkörper, auch wenn diese Selbstdarstellung in ihr zunächst das Bild eines selbstverliebten „Frauenjägers“ auslöste. Was mit einer App anfing, endete in einer Beziehung, die nun knapp zwei Jahre anhält. Ein digitaler Segen – quasi. Aber wie lange?
Die Vor- und Nachteile von Social Media und unserem digitalen Ist-Zustand müssen ganzheitlich beleuchtet werden. Robin kann mit Mila sprechen und via FaceTime ihr Gesicht sehen, auch wenn sie hunderte Kilometer entfernt in einer anderen Stadt auf der Generalprobe eines Theaterstückes ist. Non verbal können sie den Alltag des anderen – bzw. das, was er von diesem preisgibt – in ihren Instagram Stories verfolgen. Sind beide in ihrer 64-Quadratmeter-Wohnung zuhause, können sie ganz einfach Essen bestellen, ohne damit Zeit zu vergeuden. Indisch, asiatisch, griechisch, amerikanisch – egal. Die Speisekarte internationaler Cuisine ist 6,1 Zoll groß, trägt ein Apfel-Logo und ist jederzeit abrufbar. Während er morgens Kaffee macht, kann sie per Online Banking die gemeinsamen Rechnungen bezahlen oder Nachrichtenmedien konsumieren – auch ohne Baumrodung. Wollen beide dem Alltag entfliehen, so buchen sie eben innerhalb weniger Minuten eine Reise ins Ausland, wo sie ihre Erlebnisse für immer auf Fotos und Videos festhalten können – und auch präsentieren, ohne dafür den Beamer und die Dias aus dem Keller zu holen. Eine immense Erleichterung, der sich heute übrigens auch meine Mutter bedient.
Nun steigt auf digitaler Ebene aber auch die Erwartungshaltung an einen Partner und überträgt sich auf zahlreiche Facetten innerhalb einer Beziehung. Das Social Media Verhalten des anderen wird beobachtet und analysiert. Entspricht die Ästhetik meines Partners auch meiner? Gefällt mir die Art und Weise, wie er seinen Alltag zur Schau stellt? Finde ich gut, wie viel oder wenig er von sich preisgibt? Und – hier eröffnet sich auch noch eine ganz anderes Kapitel– erweckt er mit seinen Online-Aktivitäten ein Gefühl von Eifersucht in mir? Nie war es leichter, das Tun des Freundes oder der Freundin zu kontrollieren und zum Hobbydetektiv zu mutieren. So wurde das „Stalken“ in den letzten Jahren durch Social Media von einem ernst zu nehmenden Vergehen zu einer banalen Nebensächlichkeit, die online jeden Tag stattfindet. Fast schon brüstet sich derjenige damit, der möglichst schnell an möglichst viele Infos kommt. Wenn ständig überwacht wird, welche Dinge der Partner liked, in wessen DMs er slided und welche Fotos von welcher Ex-Affäre kommentiert wurden, kann das zu Problem führen, die es ohne Instagram und Co. nicht gäbe. Ergo verlangt die Möglichkeit, über digitale Kanäle schnell und unkompliziert Kontakt zu anderen Leuten zu haben, von Liebenden auch neue Formen von Vertrauen und eine starke Kommunikationskompetenz. Robin vertraut Mila, dennoch verunsichert es ihn, wenn sie neben ihm in ihr Handy tippt, und er nicht sehen kann, mit wem sie gerade kommuniziert. Wie schnell aus Texting Sexting wird, weiß er schließlich selbst. Die meisten von uns sind allerdings eher damit beschäftigt, die Vergrößerungs-Skills ihrer Community aufzubauen anstatt die ihrer Communication.
Unsere Smartphones eröffnen uns neue Ebenen: Es gibt mich, mein Handy und meine Audienz. Oder: Ein Paar, seine Handys und seine Audienz. Ein flotter Vierer. Leben wir in digitaler Polygamie? Und noch mehr: Leben wir in transparenter, digitaler Polygamie? Schließlich dient der Bildschirm unseres Handys wie ein Fenster zum World Wide Web, in das wir vorne Input hineinstecken, der hinten als Output wie durch einen Katalysator beschleunigt wieder hinauskommt und das jeweilige Publikum erreicht. Wir posten, rezensieren, kaufen ein, kreieren Content, konsumieren Medien und verorten uns, wodurch wir uns online – manche mehr, manche weniger – transparent machen. Editor ist nicht mehr nur jemand, der in einer Redaktion am Computer sitzt und SEO-optimierte Artikel schreibt – wir alle sind der Editor unseres Lebens. Und wir benutzen Meta-Filter, um dieses optisch zu optimieren. Was macht diese Erweiterung unserer (intimen) Beziehungen mit uns?
Niemand kann sich davon freisprechen, dass Zuspruch und Zuneigung von anderen ein elementarer Bestandteil der eigenen, positiven Wahrnehmung sind. Dies ist evolutionär so in uns verankert und es gehört zu einem gesunden Leben unbedingt dazu. Gefahr laufen wir aber aktiv ab dem Moment, ab dem wir die Quelle unserer Bestätigung und unseres Selbstwertgefühls zu sehr ins „Außen“ lagern. Und dieses „Außen“ sind eben nicht mehr nur Freunde, Familie und der Partner, sondern auch unser Publikum, dessen stetiger Bewertung wir uns aussetzen. Mag man sich gerade selbst nicht so sehr, postet man ein Bild und hofft, von anderen geliked zu werden. Sitzt man alleine zu Hause und sehnt sich nach Socializing, nutzt man Instagrams Frage-Button und tritt so in Beziehung zu Bekannten oder Fremden, denen es genau so geht. Fühlt sich das ganze Leben heute an wie Scheiße, findet man auf Pinterest irgendeine Quote, die das hübsch verpackt. Das verschafft kurzzeitige Befriedigung, kann aber nicht die Lösung des Problems sein, mit dem wir uns konfrontiert sehen: übertriebenen Geltungsdrang.
Ich selbst bin ein Opfer dieses Problems, auch in meiner Beziehung. Genau wie Mila und Robin, die eigentlich alles haben, was sie sich gewünscht haben – und dennoch schenken sie dem zu oft keine Aufmerksamkeit und Wertschätzung, sondern suchen sie in ihrem Handy. In ihrem Bett, bei körperlicher Intimität, in der Küche oder beim Bummel durch die Stadt – sie sind sich so nah, und doch steckt mindestens einer von ihnen mit den Gedanken in einem Digitaltunnel. In meiner Beziehung beobachte ich das auch: Ich wünsche Alexa manchmal einen „Guten Morgen”, bevor ich ihn meinem Freund wünsche. Ich liege in seinem Arm, während sein iPhone in seiner Hand liegt, und es kränkt mich, dass es nicht ausreicht, mich zu halten. Und selbst besser bin ich auch nicht.
Wir müssen damit aufhören. Unser digitaler Fortschritt ist in vielerlei Hinsicht ein Segen, den es zu würdigen gilt und der uns alltägliche „Lasten“ immens erleichtert. Ja. Wenn wir ihn jedoch missbrauchen, wird er ganz schnell zum Fluch, der still und leise wie ein Parasit an Beziehungen nagen kann. Wir müssen digitale Achtsamkeit unbedingt lernen. Sonst werden Lebensabschnittsgefährten zu Lebensappschiedsgefährten.