Großstadtgedanken #6 Die neue Lust aufs Land: Was treibt junge Menschen aus der Stadt weg?

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Da draußen, hunderte Kilometer entfernt von Hamburgs dreckiger Luft, dem Sirenengeheule und stinkenden Müllbergen auf den Gehwegen, da muss das Leben noch schön sein. Wo Kinder noch friedlich auf den Straßen spielen können, der Bus einmal pro Stunde durch das Dorf tuckert und die liebliche Ruhe höchstens durch das Schlagen der Kirchenglocken unterbrochen wird, da ist man doch noch wirklich zufrieden mit sich und der Welt. Das ist wohl das Bild, welches dauergestresste und burnoutgefährdete Großstädter vom Leben auf dem Land haben müssen. Aber wie viel Wahrheit steckt in dieser Vorstellung wirklich? Und warum sehnen sich gerade vor allem so viele junge Menschen nach genau so einem Leben?

Was hat es mit der Stadtflucht auf sich?

Fest steht nämlich: Es zieht die Leute aus der Stadt. Immer mehr Menschen tauschen ihre instagramable Altbauwohnung gegen ein Häuschen auf dem Land ein. Auch Hamburg ist vom Phänomen der Stadtflucht betroffen: Allein im Jahr 2021 zogen 11.145 Menschen aus Hamburg ins Umland, vor allem junge Familien und Berufseinsteiger:innen. Was diese Menschen dazu antreibt, hätte ich noch vor ein bis zwei Jahren wirklich schwer nachvollziehen können – denn aufgewachsen in einem 2.000-Seelen-Dorf weiß ich ziemlich genau, was einem im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Land blüht.

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Das Dorfleben in a nutshell

Die kulinarische Bandbreite reicht hier meist ziemlich genau vom Dorfgriechen bis zum Eckbistro, das Pizza, Döner und Currywurst gleichzeitig anbietet. Wer mal ausgehen will, hat die Qual der Wahl zwischen Schützenfesten, Shishabar, Malle-Partys und Trashpop in der Dorfdisco (falls vorhanden). Nach Hause kommt ihr dann höchstens mit Taxi oder ihr bleibt nüchtern und fahrt selbst mit Auto. Ein Auto braucht ihr sowieso. Für alles. Im kleinen Supermarkt trefft ihr immer jemanden, den:die ihr kennt. Mal kurz ’nen Hafermilch-Cappuccino bei Bäcker rausholen? Quasi eine Frage der Unmöglichkeit. Yogastudios? Fehlanzeige – entweder ihr schließt eine Mitgliedschaft bei der Muckibude im nächst größeren Dorf ab oder ihr meldet euch beim lokalen Turn- und Sportverein (TuS) an. Jedes Mal, wenn ihr das Haus verlasst, schleicht sich ein subtiler Güllegeruch in eure Nase. Das ist das Dorfleben in a nutshell. Und mittlerweile kann ich sogar immer mehr nachvollziehen, warum sich immer mehr Menschen nach genau so einer solchen Einöde sehnen.

Während Großstädter sich in überfüllte Yogastudios flüchten, um den ständigen Reizen im Außen, dem Lärm, der Hektik und Enge für eine Stunde zu entkommen und bei sich selbst anzukommen, finden Dörfler die Ruhe direkt vor der Haustür.

Wenn das Großstadtleben „zu viel“ wird

Denn wenn das Leben auf dem Land eine Sache bietet, die man in der Großstadt nicht bekommt, dann ist es doch vor allem: Langsamkeit. Man könnte meinen, auf dem Land schlägt die Uhr einfach einen Tick langsamer. Während Großstädter sich in überfüllte Yogastudios flüchten, um den ständigen Reizen im Außen, dem Lärm, der Hektik und Enge für eine Stunde zu entkommen und bei sich selbst anzukommen, finden Dörfler die Ruhe direkt vor der Haustür. Während Großstädter sich unter Umständen eine halbe Stunde ins Auto setzen müssen, um einfach mal wieder den Horizont sehen zu können, müssen Menschen aus dem Dorf nur aus dem Fenster blicken.

Überangebot ist Fluch und Segen zugleich

Das grundlegende Bedürfnis, sich einfach mal wieder auf das Wesentliche zurückzubesinnen, lässt sich in der Großstadt nur erschwert stillen. Hier lauert an jeder Ecke Ablenkung und Überangebot – und das kann Segen und Fluch zugleich sein. Die unzählige Auswahl an Shoppingmalls, Restaurants, Cafés und Bar, Kinos, kleinen Stores, Supermärkten und Kiosken macht uns alles zu jeder Zeit verfügbar. Ich glaube, dass Materialismus und die Angst davor, etwas zu verpassen, in der Großstadt deutlich ausgeprägter ist als auf dem Land, wo man sich einfach mit dem zufriedengeben muss, was man hat. Wo man zur Genügsamkeit gezwungen wird. Hat es nicht auch etwas Schönes und Tröstliches an sich, wenn man sich an einem Freitagabend einfach nur zwischen einem gemütlichen Abend beim Dorfgriechen oder im Eckbistro entscheiden muss? Und nicht schon bei dem Gedanken an die Frage, ob man Ramen, Sushi, neapolitanische Pizza, Tapas, Bibimbap oder vegane Burger essen gehen möchte, grundlos überfordert ist?

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Die Sehnsucht nach einer heilen Welt

Die Frage danach, warum es immer mehr junge Menschen aufs Land zieht, ist also doch eigentlich gar nicht so schwer zu beantworten. Die teils unbezahlbaren Mietpreise spielen ganz sicherlich auch ihre Rolle. Aber höchstwahrscheinlich sind sie doch einfach übersättigt vom Großstadtleben und spüren eine tiefe Sehnsucht nach Naturverbundenheit, nach Idylle und Unerreichbarkeit sowie einer heilen Welt, in der die eigenen Kinder sorgenfrei durch die Wälder streifen. Wird das Landleben dabei vielleicht etwas zu sehr romantisiert? Auf jeden Fall. Aber wer schon mal schafft, sich mit ständigem Güllegeruch und mittelmäßiger Pizza im Eckbistro anzufreunden, der:die bekommt auf dem Land mit großer Wahrscheinlichkeit das, was er:sie so dringend haben will: seine Ruhe.